Heute vor genau 24 Jahren geschah eines der größten Wunder der neueren Geschichte: Aus der DDR und der BRD wurde nach über 40 Jahren der Trennung endlich wieder ein Land! Ein Jahr zuvor hatten friedliche und massenhafte Proteste in der gesamten DDR zum Rücktritt der Regierung und zum Fall der Berliner Mauer am 9. November geführt. Am 30. September 1989 durften nach langen Verhandlungen mehrere Tausend Flüchtlinge aus der westdeutschen Botschaft in Prag in die BRD ausreisen - mussten dafür jedoch noch einmal DDR-Territorium überqueren, wie es Honecker zur Bedingung gemacht hatte. Dazu gibt es einen sehr bewegenden Dokumentarfilm.
Ich war damals 9 Jahre alt und konnte die Ereignisse natürlich noch nicht in ihrer vollen Tragweite erfassen. Gänzlich unbedarft war ich jedoch auch nicht. Was das Leben in der DDR und die deutsche Teilung bedeutete, bekamen meine Familie und ich tagtäglich zu spüren: Meiner Mutter wurden Abitur und Studium verweigert, mein Vater befand sich als Künstler und vor allem nach seiner Erwachsenentaufe im Visier der Stasi. Die Brüder meiner Mutter hatten die Schikanen und Einengungen der DDR-Regierung nicht ausgehalten und waren bereits als junge Männer gen Westen geflüchtet bzw. ausgereist. Damit war die Familie 10 Jahre lang getrennt, Begegnungen waren nur unter großen Umständen möglich, bspw. bei einem gemeinsamen Ungarn-Urlaub. Meine Cousine sah ich vor der Wende nur ein einziges Mal, da waren wir beide vier und fünf Jahre alt. In der Schule waren meine Brüder und ich die einzigen, die keine Pioniere waren. Ein Affront, den wir zu spüren bekamen. Meine Wahl zur Klassensprecherin - damals "Gruppenratsvorsitzende" genannt - wurde abgelehnt. An gemeinsamen Veranstaltungen wie Pioniernachmittagen durfte ich nicht teilnehmen. Vor allem aber durfte ich unter keinen Umständen Klassenbeste sein und mir beim Direktor eine Auszeichnung für mein sehr gutes Zeugnis abholen. Jedes Jahr wieder wurde mir die Tochter eines SED-Parteigenossen unter irgend einem Vorwand vorgezogen. Einen Vorteil hatte das Ganze aber: Da ich - ohne Pionierhemd und blaues Halstuch - eine Schande für die Klasse war, musste ich nach einer Weile nicht mehr an den fürchterlichen Fahnenappellen teilnehmen. Was das ist? Marschieren im Gleichschritt auf dem Schulhof unter dem Bild des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.
Was es jenseits der Mauer gab, wussten wir aber aus den zahlreichen Paketen, die uns "von drüben" erreichten. und von dem, was meine schwerbehinderte Omi von ihrer jährlichen Westreise mitbrachte (Mit einer Schwerbehinderung erhielt man leichter ein Reisevisum.). Besonders erinnere ich mich an die kleinen Fanta-Päckchen und den Plüschhasen, den mir eine Westverwandte meiner Oma zum 1. Geburtstag schenkte (und der heute noch auf meinem Bett sitzt!). Sehr gemocht habe ich auch die wunderschönen Dirndl, die in den Kleiderpaketen einer mir unbekannten Bekannten aus der BRD steckten. Und die überspielten Udo-Lindenberg-Kassetten.
Mit dem Mauerfall wurde plötzlich alles anders. Unser ganzes Leben stand Kopf. Meine Schule, bis dahin eine klassische "polytechnische Oberschule" mit Klasse eins bis zehn wurde zur Grundschule umfunktioniert und wir mussten sie verlassen. Aber wohin? Bis dahin kannten wir es doch gar nicht anders, als bis mindestens zur achten Klasse gemeinsam die Schulbank zu drücken. Unsere Eltern und Lehrer konnten uns in dieser Situation auch nicht begleiten, hatten sie doch mit dem neuen System ebenso wenig Erfahrungen wie wir selbst. Wir mussten uns unseren Weg ganz neu und ganz allein suchen.
Wir zogen aus unserer Wohnung aus und kauften ein Haus. Wir hatten erstmals ein Auto - einen knallblauen Wartburg. Die waren jetzt nämlich spottbillig, wo doch alle nur noch VW und Peugeot kauften. Zum ersten Mal hatten wir nun auch ein Telefon zu Hause. Es gab neues Geld. Mickymaushefte. Überraschungseier. Und Glitzerhaarspangen. Meine Großeltern kauften sich ein neues Sofa, ich durfte es mit aussuchen. Ich wählte ein schwarzes mit violetten Kissen, farblich damals absolut topmodisch. Den meeresblauen Opel von Oma und Opa habe ich auch mit ausgesucht. Ich bekam die heiß ersehnte Barbie und meine Mutter verlor ihre Arbeit. Doch nicht nur das: Ihr Beruf wurde komplett aberkannt. Sprechstundenschwestern, eine Kombination aus Sprechstundenhilfe und Krankenschwester, gab es in der BRD nicht, nur entweder das eine oder das andere. Also wurde der DDR-Beruf im Nachhinein als nicht existent eingestuft. Für die Menschen mit diesem Beruf bedeutet das: Sie waren von heute auf morgen ungelernt. Und da die Wiedervereinigung leider nur auf dem Papier eine Vereinigung beider Staaten war, in Wirklichkeit aber eine Annexion der DDR an die BRD darstellte, bei der hier kritik- und gedankenlos alles einfach übernommen wurde, wurden zahlreiche Dinge von einem Tag auf den anderen ausgelöscht. Ob sie gut oder sinnvoll waren oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Mehr Geduld, mehr Augenmaß wären nötig gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt konnte es vielen scheinbar nicht schnell genug gehen. Auf diese Weise haben wir z.B. ein (bis auf den Staatsbürgerkundeunterricht natürlich) wirklich gutes Schulsystem eingebüßt, das die PISA-Gewinnerländer seinerzeit von hier übernommen hatten.
Wir zogen aus unserer Wohnung aus und kauften ein Haus. Wir hatten erstmals ein Auto - einen knallblauen Wartburg. Die waren jetzt nämlich spottbillig, wo doch alle nur noch VW und Peugeot kauften. Zum ersten Mal hatten wir nun auch ein Telefon zu Hause. Es gab neues Geld. Mickymaushefte. Überraschungseier. Und Glitzerhaarspangen. Meine Großeltern kauften sich ein neues Sofa, ich durfte es mit aussuchen. Ich wählte ein schwarzes mit violetten Kissen, farblich damals absolut topmodisch. Den meeresblauen Opel von Oma und Opa habe ich auch mit ausgesucht. Ich bekam die heiß ersehnte Barbie und meine Mutter verlor ihre Arbeit. Doch nicht nur das: Ihr Beruf wurde komplett aberkannt. Sprechstundenschwestern, eine Kombination aus Sprechstundenhilfe und Krankenschwester, gab es in der BRD nicht, nur entweder das eine oder das andere. Also wurde der DDR-Beruf im Nachhinein als nicht existent eingestuft. Für die Menschen mit diesem Beruf bedeutet das: Sie waren von heute auf morgen ungelernt. Und da die Wiedervereinigung leider nur auf dem Papier eine Vereinigung beider Staaten war, in Wirklichkeit aber eine Annexion der DDR an die BRD darstellte, bei der hier kritik- und gedankenlos alles einfach übernommen wurde, wurden zahlreiche Dinge von einem Tag auf den anderen ausgelöscht. Ob sie gut oder sinnvoll waren oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Mehr Geduld, mehr Augenmaß wären nötig gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt konnte es vielen scheinbar nicht schnell genug gehen. Auf diese Weise haben wir z.B. ein (bis auf den Staatsbürgerkundeunterricht natürlich) wirklich gutes Schulsystem eingebüßt, das die PISA-Gewinnerländer seinerzeit von hier übernommen hatten.
Meine Mutter begann noch einmal ganz neu und arbeitete sich in den Beruf der Sachbearbeiterin ein. Was sie seitdem bearbeitet, sind die Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes (Stasi) - sehr brisantes und belastendes Material, vor allem, wenn man die Zeit selbst miterlebt und unter dem System gelitten hat. Aber die einzige sichere Arbeitsstelle, wenn man plötzlich ungelernt ist, aber drei Kinder zu versorgen hat. Und ein Hauskredit abgezahlt werden muss. Als dieser fast getilgt war, lag jedoch plötzlich ein Schreiben eines Anwalts im Briefkasten: Für das Haus seien von den Erben der ehemaligen, von der DDR nach der Ausreise in die BRD enteigneten Besitzer Rückübertragungsansprüche angemeldet worden. Der Kaufvertrag wurde für ungültig erklärt und uns blieb nur die Wahl: ausziehen oder das Haus noch einmal kaufen. Eine Anrechnung der bereits bezahlten Summe erfolgte natürlich nicht, denn die ging ja an einen anderen Besitzer. Als 1989 der Kaufvertrag unterzeichnet wurde, hatte niemand die Möglichkeit solcher Ansprüche erwähnt. Auch die rückwirkende Festsetzung des Stichtages, ab dem Kaufverträge ungültig wurden, war nicht zu erahnen gewesen. Erst recht nicht, dass unser Kaufvertrag nur einen Tag nach diesem Stichtag geschlossen wurde. Von diesen Tiefschlägen hat sich meine Familie nie wieder richtig erholt. Meine Mutter wurde schwer krank, die Ehe meiner Eltern scheiterte, wir Kinder litten unter der Unsicherheit, dem Streit, der Krankheit, dem ständig fehlenden Geld.
Und dennoch finde ich die Wende als Ganzes eine großartige Sache! Weil sie erstens so beispiellos friedlich verlaufen ist. Das wird mir angesichts der Kriege und Krisen in der Welt immer wieder aufs Neue klar. Der Arabische Frühling verlief mit viel Gewalt, in Ägypten eskalierten die Proteste gegen die Regierung, der Maidan in der Ukraine wurde blutig bekämpft, in Hongkong droht die Polizei den Demonstranten der Regenschirmproteste. Meine Eltern waren damals nie gemeinsam auf die Montagsdemonstrationen gegangen, aus Angst, wir Kinder würden allein bleiben, wenn es zu Verhaftungen käme. Zum Glück blieb diese Befürchtung unbegründet. Leipzig feiert diese bewegenden Massendemonstrationen jedes Jahr am 9. Oktober mit einem großen Lichterfest.
Der zweite Grund für meine Begeisterung für die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 ist folgender: Nichts von dem Leben, das ich seit 25 Jahren führe, wäre ohne diese Ereignisse möglich gewesen! Nach der 4. Klasse hätten mich mit dem Übertritt meiner Klassenkameraden zu den Thälmann-Pionieren und später in die FDJ weitere Repressalien erwartet. Abitur und Studium hätte ich völlig vergessen können. Ebenso meine eigene kleine Wohnung mit 19 (für alle, die es nicht wissen: In der DDR war Wohnraum derart knapp, dass man erst nach der Hochzeit, manchmal erst nach der Geburt eines ersten oder gar zweiten Kindes eine eigene Wohnung zugewiesen bekam und bei den Eltern ausziehen konnte). Die Schüleraustausche nach Frankreich. Die Urlaubsreisen quer durch Europa. Das Auslandssemester in Belgien. Bücher, Musik und Filme aus der ganzen Welt. Die inspirierende Professorin aus Germersheim und die nach der Wende gegründete Hochschule für mein zweites Studium. Liebe Freunde aus der ganzen Republik und der ganzen Welt. Den Job des Lieblingsmannes bei einem US-amerikanisches Unternehmen. Die moderne, offene, kindbezogene Pädagogik des Kindergartens für den Kleinen. Die Wahl des speziellen Gymnasiums für den Großen ganz ohne Nachweis von Parteizugehörigkeit o.Ä. Die freien Wahlen. Die Demos gegen Studiengebühren ohne die Angst vor einer Verhaftung oder anderen Konsequenzen. Die Öffnung aller innereuropäischen Grenzen inkl. Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Einführung des Euro.
So viele großartige Möglichkeiten, Erlebnisse und Begegnungen sind nur dadurch entstanden, dass vor 24/25 Jahren viele tausend mutige Menschen auf die Straße gegangen sind. Ich bin sehr dankbar dafür, dass all dies geschehen ist, und das zu einem sehr günstigen Zeitpunkt in meinem Leben.
Trotz aller Schwierigkeiten, die es nach wie vor gibt, ist dieser Tag ein Grund zum Feiern!
Wer mehr wissen möchte:
* Ein interessantes Dossier bietet die Bundeszentrale für politische Bildung.
* Die meiner Meinung nach beste Ausstellung zur deutschen Geschichte vom 2. WK bis heute befindet sich im Haus der Geschichte in Leipzig.
* Zu den Leipziger Spuren der Wendegeschichte hatte ich hier schon einmal geschrieben.
* Arte bringt derzeit zahlreiche Beiträge zum Thema.
* Im Dresdner Schauspielhaus findet eine Themenwoche mit Theater, Diskussionen, Lesungen, Konzerten, Performances und einem eigenen Radiokanal statt.
* Die Ereignisse von 1989 in Dresden
* Alles zum Herbst '89 in Leipzig
* Die Ereignisse von 1989 in Dresden
* Alles zum Herbst '89 in Leipzig
* Ein herrlicher Comic über die Wendezeit aus Kindersicht mit vielen Wiedererkennungseffekten für DDR-Kinder ist Kinderland
2 Kommentare:
Danke für den post.
Wir haben den Film gesehen, gemeinsam mit dem großen Kind. Vergessen ist keine Option.
Einen schönen Tag heute. Liebe Grüße
Oh, liebe Regina, danke für diese Erinnerungen...ja...so wars...ganz genauso...Ich kenne das gut...das mit den Repressalien...Ich bin der Wende überaus dankbar, denn ich gehöre ganz eindeutig zu den Gewinnerinnen...LG Lotta.
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