Ich gehe nicht arbeiten. Das kleine Schulkind geht nicht zur Schule. Stattdessen verbringen wir seit vergangener Woche unsere Zeit hier in diesem Haus:
Wir wissen auch nach anderthalb Jahren intensiver Therapie und Diagnostik noch nicht einmnal ansatzweise, was unserem Kleinen fehlt und was ihm so große Schwierigkeiten bereitet. Es ist schwer, dabei nicht die Zuversicht zu verlieren. Immer wieder denke ich, dass wir trotz aller Mühen noch überhaupt nichts erreicht haben und vielleicht nie mehr wissen werden als jetzt. Trotzdem müssen wir uns immer wieder aufrappeln und weitermachen. Wir haben schon so ziemlich alles ausprobiert, was es gibt (inkl. Kinderpsychotherapie, Ergotherapie, Neurofeedback, Intensivdiagnostik der Ohren, Augen und der Wahrnehmungsverarbeitung, LRS-Überprüfung, Halswirbeleinrenkung weit weg für viel Geld, Gespräche mit Lehrern, anderen Eltern, Kinderarzt, amtlichem Psychiater uvm.) - ohne Ergebnis. Immer hieß es nur: irgend etwas ist mit ihrem Kind, aber wir sind uns nicht sicher, was es genau ist. AD(H)S, LRS, Wahrnehmungs- und -verarbeitungsstörungen, alles war schon im Gespräch, nichts konnte einwandfrei diagnostiziert werden. Fragen wie "Haben Sie schon einmal über Autismus nachgedacht?" oder "Hatte das Kind vielleicht Sauerstoffmangel unter der Geburt?" haben uns zwar nicht weitergebracht, aber sehr verunsichert. Ungefragte Ratschläge von "Das Kind braucht nur mal ordentlich eins auf den Po!" über "ADHS gibt's doch gar nicht, lasst ihn zum Sport gehen, dann ist alles wieder gut" bis hin zu "Da haben Sie wohl eine ganze Menge falsch gemacht in der Vergangenheit!", helfen ebenfalls nicht weiter, machen aber wütend und sprachlos - und verstärken das Gefühl, mit den Problemen alleine dazustehen.
Nun also Kinderpsychiatrie. Kleines Schulkind und ich. Und fünf andere Familien. Sechs Kinder, die nicht in diese Welt passen. Eltern, die alles versucht haben, aber gescheitert und verzweifelt sind. Ein Team, das versucht zu helfen und eine familiäre Atmosphäre zu schaffen. Nichts an dem kleinen Haus direkt an der Elbe erinnert an ein Krankenhaus. Bilder an den Wänden, Window Color an den Fenstern, Herbstdeko auf dem Tisch, ein gemütliches Sofa, Kaufmannsladen und Eisenbahn auf dem Teppich, die Schränke voller Spiele und Playmobil.
Und doch: Wie zu Hause fühle ich mich hier nicht. Der Tag ist eine Mischung aus Hektik und Langeweile. Und dem Gefühl des Fremdbestimmtseins. Wann ich wo sein muss und mit wem, wann es essen gibt, welche Regeln für das Einräumen des Geschirrspülers gelten - nichts davon kann ich selbst bestimmen. Dabei ist mir das sehr wichtig und ich fühle mich sehr schnell unwohl, regelrecht eingesperrt, wenn es nicht so ist. Die anderen sind mit sich selbst beschäftigt und fremd. Alle duzen sich, sind freundlich, ein großer Teil der Aktivitäten findet gemeinsam satt. Und trotzdem: Sechs Wochen Zusammenleben mit Menschen, die größtenteils so ganz anders sind als wir. Mit denen ich in meinem Leben sonst höchstwahrscheinlich keinerlei Kontakt hätte. Außer den Kindern gibt es keine Berührungspunkte. Ich gebe zu, dass mir das schwer fällt. Ich gebe zu, dass ich manchmal den Gedanken: "Na, kein Wunder..." bekämpfen muss. Was auch daran liegt, dass ich mich zu gern abgrenzen würde von den Eltern mit solchen Problemen. Weil ich sie selbst so gern gar nicht hätte. Weil ich mich dafür schäme. Weil ich mir selbst vorkomme wie diejenigen, auf die man mit dem Finger zeigt und sagt: "Na, kein Wunder, bei DEN Eltern."
Familienglück sieht anders aus.
Familienglück sieht anders aus.
Regina
7 Kommentare:
Liebe Regina,
es ist ganz sicher kein einfacher Weg, den euer Kleiner und ihr mit ihm gehen müsst. Ihr habt euch das nicht ausgesucht, ihr seid nicht schuld und ganz sicher müsst ihr euch nicht schämen!!!
Du schreibst an einer Stelle, es sind Kinder, die nicht in diese Welt passen. Schade, dass es nicht für jeden einen passenden Platz in dieser Welt gibt - das denke ich jedenfalls oft, wenn ich meine Schüler anschaue. Es sind so liebenswerte, tolle Menschen, aber sie passen auch oft nicht in ihre Familien oder ihre Umwelt.
Ich glaube Dir sofort, dass die Wochen in diesem besonderen Haus eine große Herausforderung für euch sind! Viel lieber wäre man zuhause und wäre einfach Familie ohne Probleme. Ich wünsche euch trotzdem, dass es letztlich eine bereichernde Zeit für euch sein kann und darf! Und natürlich drücke ich euch ganz fest die Daumen, dass diese Zeit euch etwas bringt!!!
Ich drücke Dich mal aus der Ferne und schicke Dir ganz viele liebe Grüße,
Karen
Ich versuche mir vorzustellen, wie dolle mich das "nerven" würde dort zu sein - aber es bleibt eben nur eine Ahnung, denn momentan kenne ich nur Familie ohne Probleme. Zu meinem Glück. Ich drück Dich und wünsche Dir viel Kraft und dass es irgendwo einen Lichtblick gibt.
LG
Kerstin
Jetzt bin ich wirklich erschrocken, denn bislang dachte ich, dass euer Weg nun aus dem (Schul)Tunnel mit dem Wechsel herausführen würden. Eure "Einweisung" sieht nun aber gar nicht danach aus. Die Daumen für euren Sohn sind ohnehin schon gedrückt - nun noch in bisschen mehr.
Oh liebe Regina, nach allem was ich bei euch bis her erlebt habe, wart ihr die "normalste", ja sogar nacheiferungswürdige Familie. Wenn man sich so selten sieht kratzt man aber wohl nur an der Oberfläche... ich wünsche euch ganz viel Kraft. Dieses Gefühl von "Nicht-zu-Hause" kenne ich nur zu gut. Denn in meiner Finnischen Familie war ich wohl zu Hause, ja, aber gehört hat mir nix von dem, was ich dort hatte, mein Bett, mein Tisch, mein Stuhl... ich hatte eigentlich nicht einmal einen Stuhl in meinem Zimmer :D Man wünschte sich einfach auch einen EIGENEN Haushalt, obwohl das im Endeffekt viel mehr Arbeit erfordert.
Ich hoffe, dass dieser Schritt ein Schritt in die bessere und Konfliktfreiere Zukunft ist. Viele liebe Grüße Sophie
Liebe Regina,
deine offenen Worte finde ich extrem mutig ...und ich finde,du hast wunderbar und erschreckend ehrlich geschrieben, wie sehr wir (du, ich und deine und meine Umwelt) in Zwängen und unserem "Idealbild" stecken.
Ich wünsche Dir / Euch viel Kraft und Durchhaltevermögen, möge eine Variante der Lösung für euch auftun. Meine Gedanken und Gebete sind bei euch.
LG Anja
Liebe Regina,
ich finde es schade, dass man oft zu schnell vermittelt bekommt, dass man irgendwas falsch gemacht hat. Es ist doch so gut, dass ihr euch auf den Weg gemacht habt zu suchen, was euren kleinen Sohn so anders macht. Und dabei gefällt mir "anders" irgendwie nicht, vielleicht besonders? Warum muss jeder (im Schulsystem) der Norm entsprechen, ist nicht eigentlich Inklusion in aller Munde?
Ich hoffe, dass euch die Zeit in der Tagesklink trotz allem gut tut und es irgendwann nicht mehr ums "Warum" geht, sonder ihr euren Alltag mit seinen Besonderheiten einfach so meistern könnt. Ohne viel Rechtfertigung, Erklärung usw.
Bei meiner Schwester wurde sehr spät festgestellt, dass sie ihr Leben nicht alleine meistern kann. Das war ein harter Weg bis Diagnosen feststanden, bis Gutachten klärten ob und wie eine Betreuung aussehen kann, was sie unterstützt usw. Und ich hatte den Eindruck, dass es in der Stadt in der sie lebt noch viel einfacher war als wenn sie hier in Sachsen gewohnt hätte. Ich fühl mich bei deinem Bericht ein wenig erinnert an die Zeit des Suchens bei ihr.
Was ich dir und deiner Familie aber besonders Wünsch, dass ihr bei all den Schwierigkeiten im Moment die Freude und den Spaß am Leben und Miteinander mehr genießt, als dass ihr euch sorgt!
Liebe Grüße
Stefanie
Ach, da habe ich Tränen in den Augen. Wie ich mir vorstelle, dass mir jemand sagt, ich hätte viel falsch gemacht in der Vergangenheit. Und ich weiß, dass ihr liebevolle Eltern seid, die sich so viele Gedanken machen.
Es ist auch traurig, dass manche Kinder einfach nicht in unsere Welt passen - dürfen? Es tut mir so leid zu sehen, wie sie nicht jemand anders sein können, aber so in ihrer Eigenart nicht zurecht kommen (dürfen).
Ich wünsche euch alles Gute. Ich wünsche eurem Sohn, dass er seinen Weg findet. Dass er angenommen wird, wie er ist und sich nicht querstellen muss, um angepasst zu sein. Denn sich selbst so umzukrempeln kann nicht funktioneren (denke ich).
Alles Liebe,
Kathrin
*schluck* 6 Wochen? Eine lange Zeit. Keine schöne Zeit für dich. Geh nicht unter.
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