Vor 200 Jahren befand sich halb Europa im Krieg. Wieder einmal. Diesmal hieß der Verursacher Napoléon und hatte sich in den Kopf gesetzt, sein Reich "ein bisschen" zu vergrößern. Um genauer zu sein: Bis zum Ural. Leider war dieses Unternehmen lange Zeit sehr erfolgreich. Zumindest, bis die französischen Truppen auf dem Rückweg von Russland rund um meine Heimatstadt Leipzig auf eine Allianz aus Preußen, Russland, Schweden, Österreich und Großbritannien trafen und vernichtend geschlagen wurden. 100.000 von insgesamt 600.000 Soldaten fanden damals auf den Schlachtfeldern den Tod. Eine grausame Zeit.
Trotzdem - oder gerade deshalb? - übt diese Schlacht seitdem eine große Faszination auf viele Menschen aus. So sehr, dass sich in regelmäßigen Abständen Tausende Laienschauspieler aus ganz Europa in historische Uniformen werfen und die Gefechte nachspielen.
Ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen. Mein Kindergarten lag auf dem "Monarchenhügel", einer Erhebung am Stadtrand von Leipzig, auf der die Monarchen während der Völkerschlacht gestanden und das Geschehen ringsum überblickt haben. Meine Grundschule befindet sich im Schwarzenbergweg, benannt nach Fürst von Schwarzenberg, dem General der österreichischen Armee.
Ausflüge führten uns auch zu Gefechtsdarstellungen und Zinnfigurenausstellungen der Völkerschlacht, z.B. im Torhaus Dölitz.
Das
Völkerschlachtdenkmal, anlässlich des 100. Jahrestages dieser Schlacht erbaut, ist eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt und ein beliebtes Ausflusziel auch für die Einheimischen. Ein Aufstieg lohnt wegen der schönen Aussicht immer, um den davor angelegten See kann man spazieren gehen und im Winter kann man auf den umliegenden Wiesen prima rodeln und auf dem zugefrorenen See Schlittschuh laufen. Auch zum Kindergeburtstag hatten wir die Aussichtsplattform einmal als Ziel.
Vergangene Woche nun jährte sich das berühmte Gefecht zum 200. Mal. Eine ganze Woche lang fanden in und um Leipzig zahlreiche Veranstaltungen statt: Biwaks, in denen die Darsteller lebten wie vor 200 Jahren, Szenen alten Dorfgeschehens inkl. Handwerkervorführungen, Gefechte, Kanonenschüsse, Gedenkgottesdienste, aber auch Demonstrationen gegen diesen "Kriegskarneval", wie es Kritiker nennen.
Es ist in der Tat ein schwieriges Thema. Objektiv handelt es sich schlicht und ergreifend um das Nachspielen einer Kriegshandlung. Das ist absolut kritisch zu sehen. Auf der anderen Seite stehen Argumente wie die durchaus informative und lebendige Darstellung historischer Ereignisse inkl. originalgetreuen Kostümen, Waffen, Behausungen etc., das gemeinsame Wirken von Gruppen aus ganz Europa sowie die Parallelen zu anderen, im eigentlichen Sinne kriminellen oder kriegerischen Geschehnissen, die heutzutage ebenfalls in Alltag, Literatur, Medien und Spiel verharmlost werden. Ich denke da beispielsweise an Ritter, Piraten, Cowboys und Indianer. Auch hier handelt es sich samt und sonders um grausame historische (und leider tlw. noch aktuelle) Praktiken - und dennoch spielen es schon kleine Kinder mit Freude nach, sind kleine Comicpiraten die Helden des Kindermarketings und Indianer wie Cowboys überhöhte Idole vieler kleiner und großer Fans. Mit Begeisterung werden in der Kinderwerkstatt Holzschwerter gebaut und im Bauzimmer des Kindergartens winzig kleine Geschosse aus Lego-Kanönchen abgefeuert.
Wie also damit umgehen, vor allem auch in Bezug auf Kinder?
Alles verbieten, was mit Waffen und Kämpfen zu tun hat? Wer diese Ansicht vertritt, hat wahrscheinlich noch nie kleine Jungs im Spiel erlebt. Selbst die jüngsten Kinder sehr pazifistisch eingestellter Eltern schnappen sich mir nichts, dir nichts den nächstbesten Stock und rufen "Peng, peng!". Oder funktionieren eine Banane zur "Pisti" um. Oder die eigenen Finger. Oder was auch immer sich findet.
Warum das so ist? Ich weiß es nicht. Aber die Beobachtung ist unmissverständlich. Der Reiz ist da, scheinbar von ganz allein, ohne große Anregung von außen.
Die zweite Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist folgende: Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen den Kriegen der Vergangenheit und denen der Gegenwart? Warum ist es gesellschaftlich weithin akzeptiert und verbreitet, die Kämpfe längst vergangener Zeiten nachzuspielen und damit zu verharmlosen, der gleiche Umgang mit den kriegen des 20. Jahrhunderts aber undenkbar? Man stelle sich nur mal vor, ein Kind wollte zum Fasching als KZ-Aufseher gehen...Oder als Saddam Hussein oder Gaddafi oder oder oder. Undenkbar. Aber weshalb? Ist es wirklich nur der historische Abstand oder spielen hier noch ganz andere Faktoren eine Rolle? Ich kann es mir nicht so richtig erklären.
Nun also die große 200-Jahr-Feier und die Frage: Gehen wir da auch hin? Wir haben lange hin und her überlegt und schließlich beschlossen: Das schauen wir uns an.
Wie das war? Ein historisches Spektakel mit allem drum und dran, tollen Kostümen, Stoffzelten, Strohmatten und viel, viel Schwarzpulver. Die Kinder fanden vor allem die donnernden Kanonenschüsse klasse, ich mochte die historischen Kleider und Hüte der begleitenden Frauen.
Ohne kritische Einwürfe unsererseits ging es dennoch nicht; es war mir wichtig, den Kindern begreiflich zu machen, dass dieses Schauspiel hier mit den lachenden, wohlgenährten Soldaten in ihren frischen und sauberen Uniformen höchstwahrscheinlich nichts mit dem wahren Zustand der Armee nach wochenlangen Märschen durch halb Europa zu tun hat. Wir haben also Kostüme geguckt, bei den Gewehrsalven und Kanonenschüssen viel Rauch eingeatmet und natürlich auch ein paar Fotos gemacht:
An den Röckchen unschwer zu erkennen: Die schottischen Truppen.
Ein Schuss...
... und sehr viel Qualm.
Dorffrauen winken einem berittenen Feldmarschall zu
In der Ferne erkennt man die Rauchschwaden des französischen Heeres
Die Kriegerin von heute dokumentiert das Geschehen digital ;-)
Am Rande des Geschehens herrscht Ruhe: Es werden Socken gestrickt. Der nächste Winter kommt bestimmt.
Im Hintergrund schießen die Männer. Vorn schießen die Frauen - Fotos :-)
Liebe Grüße!
Regina